Radolfzell ist eine Kleinstadt am Bodensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde hier eine Kaserne für die Waffen-SS erbaut und 1937 bezogen. Von ihr gingen in folgenden Jahren Verbrechen aus Gedenken & Gedenkpolitik - bis weit über die Region hinaus.
Die Radolfzeller SS sprengte in der Region Synagogen, deportierte Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager, war am 'Anschluß' von Österreich, der Besetzung der Sudetendeutschen Gebiete, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen beteiligt.
In der Radolfzeller Kaserne war von 1941 bis 1945 ein Außenkommando2 des KZ Dachau integriert.3
Beinahe 65 Jahre lang wurde darüber weitgehend geschwiegen. Erst in den letzten zehn Jahren änderte sich das. So wurden 2010 ein vielbeachtetes, neues Theaterstück aufgeführt, ein Dokumentarfilm gedreht und seit 2014 in der Stadt Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, worüber in der Presse jeweils ausführlich berichtet wurde.
Mehr zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und dem Gedenken in Radolfzell findet sich in der Chronologie.
Dokument des Monats
Das Massaker von Le Paradis, 27. Mai 1940
Während der Schlacht um Dünkirchen im Mai 1940 erlitt die SS-Division Totenkopf im Département Pas-de-Calais bei Gefechten mit britischer Nachhut erhebliche Verluste. Am 26. Mai 1940 war die Division nach Überschreitung des Bassée-Kanals in nordöstliche Richtung in den Raum Estaires - Fromelles vorgedrungen und bei Le Paradis auf starke britische Gegenwehr gestoßen. Am 27. Mai verzeichnete die Division dort 155 Tote, 483 Verwundete und 53 Vermisste. Am selben Tag gerieten rund 100 britische Soldaten des 2nd Batallion Royal Norfolk der 4th Brigade, 4 Division, in die Hand der berüchtigten SS-Einheit.
Beim Massaker von Le Paradis wurden sie am 27. Mai 1940 von der 3. und 4. Kompanie des I. Bataillons des 2. SS Totenkopf Regiments unter dem Befehl des SS-Hauptsturmführers Fritz Knöchlein ermordet: Die SS-Soldaten stellten 99 wehrlose Kriegsgefangene an einer Mauer auf und erschossen sie mit zwei schweren Maschinengewehren. Wer von den Getroffenen noch Lebenszeichen zeigte, wurde mit dem Bajonett erstochen oder aus nächster Nähe erschossen; nur 2 britische Soldaten überlebten das Massaker.
Unter den Tätern aus den Reihen der SS-Division Totenkopf waren mutmaßlich auch solche, die zuvor in der SS-Kaserne Radolfzell stationiert waren: Seit Dezember 1939 war Radolfzell "Heimatstandort" des Totenkopf-Infanterie-Ersatzbataillons I, eine bis zu 1500 Mann starke Ersatzeinheit für die zunächst in Frankreich eingesetzten Totenkopf-Infanterie-Regimenter.
Auch unter den bei den Gefechten in Le Paradis getöteten SS-Soldaten waren Angehörige des Totenkopf-Infanterie-Ersatzbataillons I aus Radolfzell, wie eine neu aufgefundene Porträtfotografie belegt:
"Unser herzensguter Junge", SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatzbataillon I, Radolfzell.
Studio-Porträtfotokarte, angefertigt 1940, Prägesignatur: Foto Sutter, Radolfzell; rückseitiger handschriflicher Eintrag:
"Zum bleibenden Gedenken an unseren herzensguten Jungen Hans-Christoph (n.n.), gefallen 27. Mai 1940 in Le Paradies (sic!)".
Fotoarchiv Markus Wolter